Freitag, 26. Oktober 2012

Goffman und das biologische Geschlecht

In diesem Blog möchte ich nicht nur meine eigenen Erlebnisse mit dem Aufwachsen meines Kindes dokumentieren, sondern mich auch mit den Möglichkeiten der Evaluation, der Erfassung und Analyse, von sozialer Praxis der Geschlechtskonstruktion und insbesondere des Doing Gender als einer interaktiven sozialen Praxis auseinandersetzen.
Im ersten Schritt werde ich dazu eine sehr dezidierte Auseinandersetzung mit dem Text »Das Arrangement der Geschlechter« von Erving Goffman vornehmen.
Übersetzung von Margarethe Kusenbach und Hubert Knoblauch im Buch »Interaktion und Geschlecht«, welches zwei Texte von Goffman, sowie eine Einleitung von Hubert Knoblauch und ein Nachwort von Helga Kotthoff enthält und auch von den beiden herausgegeben wurde. Ich verwende die Ausgabe von 1994. Der englische Originaltext »The arrangement between the sexes« erschien 1977 in 'Theory and Society'.

"Das Geschlecht dient in modernen Industriegesellschaften, und offenbar auch in allen anderen, als Grundlage eines zentralen Codes, demgemäß soziale Interaktionen und soziale Strukturen aufgebaut sind; ein Code, der auch die Vorstellungen der Einzelnen von ihrer grundlegenden menschlichen Natur entscheidend prägt." (105)
"Aufgrund ihrer biologischen Gestalt können Frauen Kinder gebären, Kinder stillen und menstruieren, Männer jedoch nicht. Zudem sind Frauen im Durchschnitt kleiner, haben leichtere Knochen und weniger Muskeln als Männer. Etwas organisatorischer Aufwand wäre nötig, wenn auch unter modernen Bedingungen nicht allzu viel, wollte man spürbare soziale Folgen dieser körperlichen Gegebenheiten verhindern. Industriegesellschaften können neue ethische Gruppen verkraften, die beträchtliche kulturelle Unterschiede aufweisen, ebenso den ein Jahr oder länger dauernden Wehrdienst junger Männer, enorme Bildungsunterschiede, Wirtschafts- und Arbeitsmarktzyklen, die kriegsbedingte Abwesenheit von Männern jeder Generation und zahllose andere Turbulenzen der öffentlichen Ordnung. (...) Nicht die sozialen Konsequenzen der angeborenen Geschlechtsunterschiede bedürfen also einer Erklärung, sondern vielmehr wie diese Unterschiede als Garanten für unsere sozialen Arrangements geltend gemacht wurden (und werden) und, mehr noch, wie die institutionellen Mechanismen der Gesellschaft sicherstellen konnten, daß uns diese Erklärung stichhaltig erscheinen." (106 f., fett von mir)
Meiner Meinung nach ist Goffman hier ziemlich deutlich: Die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die er nicht bestreitet, sind für ihn mitnichten die Ursache für die sozialen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Goffman interessiert sich überhaupt nicht für die biologischen Differenzen. Ihn interessiert ausschließlich, was aus diesen, wie er findet, relativ unbedeutenden biologischen Unterschieden in seiner Gesellschaft gemacht wird.
Kennt man auch Goffmans Buch "Rahmenanalyse", dann könnte man es auch so ausdrücken:
Wir neigen dazu unser Geschlecht und die Geschlechtsdifferenzen in einem "natürlichen Rahmen" wahrzunehmen. Diese Argumentation findet dabei bis heute ständig Anwendung:
  • Prämisse A) Die Körper von Männern und Frauen zeigen unterschiedliche Merkmale.
  • Prämisse B) Männer und Frauen werden sozial unterschiedlich behandelt.
  • Konklusion C) Diese Unterschiede in der Behandlung werden durch die unterschiedlichen Merkmale des Körpers verursacht.
Goffman aber ändert die Perspektive:
  • Prämisse A) Die Körper von Männern und Frauen zeigen unterschiedliche Merkmale. (Dies zweifelt er nicht an, wie es beispielsweise der Postfeminismus, etwa Judith Butler, tut. Er geht vielmehr darauf ein, dass diese Unterschiede zumindest in unserer modernen Gesellschaft ziemlich  unbedeutend sind.)
  • Prämisse B) Männer und Frauen werden sozial unterschiedlich behandelt. (Er spricht von sozialen Arrangements!)
  • Konklusion C) Es gibt soziale Mechanismen, die die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern nutzen, um die sozialen Arrangements zu sichern.
Und der Untersuchung genau dieser Mechanismen in interaktiven Situationen, sowie deren Bedeutung für die öffentliche Ordnung widmet sich Goffman in diesem Aufsatz.

Anmerkung: Goffman untersucht stehts soziale Situationen oder Interaktionen. Damit meinte er, Situationen in denen mindestens zwei Personen in gegenseitiger Wahrnehmung körperlich anwesend sind (für die gegenseitige Anwesenheit mag es im Detail Ausnahmen bei seinen Überlegungen zu Spionage u.ä. geben, was hier jedoch keine Rolle spielt).
Mit der öffentlichen Ordnung meint er nicht etwa das Wohlverhalten der Bürger auf öffentlichen Plätzen, sondern eher das Geordnetsein der interaktiven Begegnungen (hierzu kann man sowohl seinen Text "Interaktionsordnung" sowie sein Buch "Das Individuum im öffentlichen Austausch für eine dezidiertere Definition der Begriffe "öffentlich" und "Ordnung" heranziehen).

Fazit:
  • Das Geschlecht dient als Grundlage eines zentralen Codes, demgemäß soziale Interaktionen und soziale Strukturen aufgebaut sind.
  • Die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern nutzt dieser Code, um die sozialen Arrangements der Geschlechter zu sichern und sie für seine Mitglieder als natürlich und damit selbstverständlich zu prägen. Diesen Mechanismus der Erhaltung des Geschlechtsarrangements nennt Goffman institutionelle Reflexivität.
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Dieser blog ist nicht der Ort für Grundsatzdiskussionen zu biologischen Determinismen von Geschlecht, zur Sinnhaftigkeit verschiedener Forschungsansätze oder des Feminismus.

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